In Sommer 2017 haben mein Partner und ich drei Wochen in Norwegen verbracht. Wir haben ungefähr 4.500 km per Auto, Zug, Flugzeug und Schiff zurückgelegt, von Oslo über die Westfjorde nach Bergen, Atlantikstraße nach Trondheim, dann Bodö bis nach Tromsö. Die Mitternachtssonne, Midnattssol, habe ich einmal gesehen. Etwa 15 oder 20 Minuten ist sie raus gekommen. Wir waren ihr fünf Nächte auf der Spur, aber sie wollte sich nicht wirklich zeigen: sobald wir an einem Ort angekommen waren, war sie bald weg. Bis auf den letzten Abend, auf einem Schiff wie aus der Zeit gefallen, in der Höhe der Lofoten. Das ist die Geschichte dazu.
Erste Nacht
Heute Nacht geht es per Zug weiter. Wir sitzen auf einer Bank im Trondheimer Bahnhof, neben uns die Koffer. Zwei Wochen Norwegen sind vorbei und ich bin müde. Immer wieder packen, weiter ziehen. Diese schöne Stadt zu verlassen fällt mir gar nicht so schwer. Seit zwei Tagen hat das norwegische Wetter gezeigt, dass es auch anders kann. Es ist richtig nass, kalt und grau geworden. Ich bin aber freudig erregt, es geht in den Norden. Wir werden heute Nacht den Nordpolarkreis überqueren, 729 km dem ewigen Tag entgegenfahren, nach Bodö, Endhaltestelle der Nordbahn. Weiter nach Norden fährt kein Zug mehr.
Unsere Schlafkabine für zwei Personen ist schmal aber gemütlich und die Bettwäsche riecht gut. Ich schaue aus dem Fenster, es ist grau und regnet. Anstatt dunkler müsste es nun aber immer heller werden und ich versuche, lange wach zu bleiben, wie ein Kind das am Heiligabend auf den Weihnachtsmann wartet. Irgendwann zwischen 1 und 2 Uhr schlafe ich ein. Es war keine Sonne zu sehen. Wissenschaftlich gesehen, war es auch nicht zu erwarten, da der Nordpolarkreis viel weiter nördlich liegt, sodass wir ihn in erst in den Morgenstunden überqueren werden.
Zweite Nacht

Wir sind in der Früh in Bodö angekommen unter strahlendem Sonnenschein. Wir sind nur einen Tag und eine Nacht hier, wir haben aber viel vor: tagsüber werden wir die Stadt und die Salsträumen besuchen, und am Abend werden wir auf den 366 m hohen Hausberg Bodös, Keiservarden, steigen und von dort die Sonne anschauen, die kurz das Meer antippt und nicht untergeht. Soweit der Plan am Morgen. Kurz vor 11 warten wir an einer Haltestelle auf den Bus. Und ich habe das Gefühl, dass mit meiner Sonnenbrille etwas nicht stimmt. Ich putze sie mehrfach, aber es ist immer noch da. Die Sicht wird trüber. Der Bus kommt und wir fahren zum schnellsten Meeresstrom, es fließt unheimlich schnell in eine Richtung, dann hält es kurz inne, bevor es umkehrt. Der Strom ist blau und die Sicht klar und wunderschön.

Aber auf dem Rückweg steigt der dichte Nebel aus dem Meer. Links und rechts von der Straße habe ich beim Hinfahren blaue Buchten gesehen. Sie sind noch zu sehen, aber trüb wie durch ein ungeputztes Fenster. Zurück in Bodö ist der Nebel allgegenwärtig und die Temperatur ist auf etwa 12 Grad gesunken.

Wir checken in Vandrerhejm ein und überlegen, was wir tun wollen und dann entscheiden wir uns, doch auf dem Keiservarden zu gehen. Die Wetter App macht keine große Hoffnung auf Besserung, aber wir wollen doch nicht mitten am Tag ins Bett (zumindest ist es um 22 Uhr genauso hell oder so trüb wie um 14 Uhr).

Laut Wikipedia soll hier im Jahr 1891 der deutsche Kaiser Wilhelm samt Gefolge gestiegen sein. Ob es tatsächlich so war, ist nicht historisch gesichert, aber es soll hier und da Spuren geben. Die Wanderung ist wirklich leicht, und der Berg wimmelt nur so vor Menschen, die zu der späten Stunde alleine oder zu mehreren joggen. Das ist zumindest die Vermutung, weil im dichten Nebel nur die gedämpften Stimmen zu hören sind. Aber es hat aller Anschein, dass die ganze Stadt sich am Abend auf diesem Berg trifft, um Sport zu machen. Wir sehen insgesamt sehr wenig, kaum die Hand vor den Augen. Wir erkennen die einzige andere Touristin auf dem Berg an den Klamotten und dem gemächlichen Tempo. Während wir gut eingepackt in Funktionskleidung den Berg schnaufend hinauf gehen, rennen die Norweger und Norwegerinnen in leichten Sportklamotten rauf oder runter wie ich es sonst aus München an einem warmen Frühlingstag an der Isar entlang kenne. Andere Länder, andere Konditionen. Ich bin nach 2,5 Stunden völlig durchgefroren und will nun ins Bett, auch wenn es auch um Mitternacht immer noch nicht dunkel wird. Oder zumindest nicht dunkler. Von der Sonne war seit 10 Stunden nichts mehr zu sehen.
Dritte Nacht
Heute Morgen sind wir im sonnigen Tromsö gelandet. Das Flugzeug mit uns am Bord hat sich einfach aus dem Nebel um Bodö erhoben. Aus dem Flieger konnte ich die verschneiten Berge glänzend in Sonnenlicht sehen, atemberaubend schön. Wir haben bei Jorge in Bed & Waffles eingecheckt und sind gegen 14 Uhr losgezogen. Die Wetter App sagt voraus, dass es um 19 Uhr mit der Sonne vorbei ist. Es kommt Regen und die Temperatur wird auch stark sinken, um fast 10 Grad. Ich hoffe, es stimmt nicht, aber bisher hat sie leider immer recht gehabt. Wir wollen auf dem Hausberg steigen, so lange noch was zu sehen ist. Die Seilbahn Fjellheisen lassen wir links liegen, nicht weil wir unbedingt zu Fuß rauf wollen, sondern vor allem, weil die Schlange an der Basis Station so lang ist, dass die Sonne vermutlich untergeht bis wir dran kommen (also in gefühlten 4 bis 5 Wochen). Der Storsteinen mit seinen 421 m ist eine etwas andere Nummer als der Berg in Bodö gestern. Das liegt nicht unbedingt am Aufstieg, sondern vor allem an den tiefen Schnee, das unter der warmen Sonne zum Teil schmilzt und sich in schnelle fiese Bäche verwandelt. Über meinem Rücken fließt auch ein Bach an Schweiß bei fast 20 Grad. Ich habe keine hohen und wasserdichten Wanderschuhe, ich wollte Gewicht und Volumen sparen und muss nun tierisch aufpassen, wo ich hintrete. Oben angekommen, teilen wir das Panorama und die Waffeln mit gefühlt Tausend Touristen, die zum Großteil mit der Seilbahn gekommen sind. Die Aussicht verschlägt mir die Sprache. Wie bereits erwähnt, haben wir einiges aus diesem wunderschönen Land gesehen, aber dieses Bild wird eines der schönsten werden.

Als wir nach unten gehen in Richtung Stadt schieben sich immer mehr Wolken vor die Sonne. Anfangs eher kleine, dann immer größere und dichtere. So zwischen 19 und 20 Uhr ist die Wolkendecke perfekt grau. Wir wandern noch durch den nördlichsten botanischen Garten der Welt, bevor wir ins Bett gehen. Die Lichtverhältnisse werden sich bis am nächsten Tag nicht ändern: eine graue Dämmerung.
Vierte Nacht
Die Waffeln in Bed & Waffles sind richtig gut und ich habe nie in meinem Leben eine bessere Erdbeermarmelade gegessen. In Süden Norwegens, in Hardanger, wachsen die angeblich besten Erdbeeren der Welt. Es sind nicht viele und der Sommer ist auch kurz, aber genau das macht sie so besonders. Sie speichern auf einmal sehr viel Sonnenlicht (wenn sie mal scheint) und so schmecken sie auch. Und wenn wir schon dabei sind, nein, sie ist nicht wieder gesehen worden, die Sonne. Es hat den ganzen Tag geregnet, und wir haben uns vier Tromsöer Museen angeschaut, und irgendwann reicht es auch. Ein Problem ist, auch das Letzte macht um 18 Uhr zu. Das Schiff, auf dem wir weiter reisen (die MS Lofoten aus der Flotte der Hurtigruten) legt so gegen 23 Uhr an. Das sind noch sieben Stunden, draußen regnet es stark bis mittel und der Wind bläst. Weitere 2 Stunden verbringen wir im Einkaufszentrum, wo ich mich immer wieder ermahnen muss, dass ich: 1) mehr als genug Klamotten habe und 2) alles, was ich doch nicht dort lassen kann, in meinem kleinen Koffer passen muss. Nun, diese Ermahnungen haben auch in Trondheim nichts genutzt, und in Oslo auch nicht. Aber um 20 Uhr ist hier auch Schluss. Draußen ist es weder heller noch wärmer geworden und wir haben noch 5 Stunden. Zum Glück gibt es die Ölhallen. Für Leser*innen aus München: das ist das Hofbräuhaus in Tromsö: Bier und Touristen. Nur die Proportionen sind etwas anders: die Räume viel kleiner und Auswahl und die Preise viel höher. Es gibt unzählige Sorten Bier, in 3 Größen (sehr klein, klein und mittel), und die kosten läppische 8 bis 16 Euro pro Glas. Ein ausgestopfter Polarbär fristet sein Dasein hinter unserem Tisch. Alle, aber wirklich alle Leute die rein kommen, lassen sich in alle möglichen Posen mit ihm fotografieren. Und mit Bier und Polarbär vergeht die Zeit tatsächlich schneller.
Kurz vor 23 Uhr machen wir uns auf dem Weg zum Kai. Die MS Lofoten steht schon da und wir dürfen an Bord. Es ist das älteste Schiff der Flotte, gebaut 1964. Die Einrichtung ist auch von damals: die Ledercouch, die Sessel und Tische sind aus der Zeit gefallen. Der einzige Hinweis, dass wir uns nicht in den 60er Jahre befinden, ist der Flachbildschirm am Eingang. Auch hier hat ein armer Polarbär seine Haut lassen müssen, als Deko auf der Wand. Wir checken ein und ich schaue mir noch bis um 1 Uhr an, wie die Arbeiter in dicken Gummistiefeln und Regenklamotten die Fracht verladen. Als ich mich gegen 2 Uhr in die Koje lege, ist es hell und es regnet.
Fünfte Nacht
Den ganzen Tag hat es geregnet. Wir fahren nun Richtung Süden, vorbei an den Vesterälen. Wir sind durch den steilen und engen Trollfjord gefahren und haben einen Berg mit einem Loch in der Mitte gesehen. Aber nun nach fast 3 Wochen Norwegen ist fast kein Platz mehr für weitere Wunder. Wenn nun selbst ein Troll aus dem Meer stiege, hole ich nicht mal meine Kamera mehr raus, entscheide ich. Ich habe bereits alles gesehen, glaube ich. Wir sind gegen Abend auf der Insel Svolvaer auf den Lofoten ausgestiegen, um einen Stockfisch für meine Freundin zu kaufen, die so etwas von zu Hause in Nigeria kennt und in Deutschland sehr vermisst.

Wir sind uns die Beine in den Hals auf der Insel des Stockfisches gegangen, bis wir ein Exemplar in einem Supermarkt bekommen haben. Ich bin mehrfach von Touristen von anderen Hurtigruten fotografiert worden, die kaum glauben konnten, dass so etwas wie MS Lofoten tatsächlich noch existiert und fährt. Die Inneneinrichtung musste natürlich fotografisch dokumentiert werden und wir die Menschen am Bord waren nun mal als Dekoration da. Heute Nacht fährt das Schiff wieder über die Linie des Nordpolarkreises. Südlich davon geht die Sonne nachts unter, wenn auch nur für wenige Stunden.
Es ist 22.30. Mein Partner hat sich bereits in unsere Kabine ohne Fenster im untersten Stock im Bauch des Schiffes zurückgezogen. Ich sitze am Fenster und schaue mit einem Auge in ein Buch. Die Wolkendecke ist noch grau, sie wird aber dünner. Und irgendwo ganz weit da draußen kommt ein Lichtschimmer, als ob jemand eine Schublade mit eingebauter Lampe öffnen würde.
Das Meer schimmert wie flüssiges Silber aber irgendwo weit, am Horizont, kann man einen gelben Streifen sehen. Dann zieht wieder eine Wolke vorbei und das Licht verschwindet für eine Weile, um kurz danach wieder zu kommen.
Es ist 23.30, als ich nun fest glaube, sie wird sich doch noch zeigen, die Mitternachtssonne. Ich gehe nach unten und versuche meinen Partner zu wecken. Er ist aber bereits im Tiefschlaf versunken. Sodass mir nichts anderes übrig bleibt, als alleine nach draußen zu gehen, als sie sich um 23.46 endlich zeigt, rund und wunderschön über das silberne Meer.
Um 23.54 mache ich ein Selfie und ein Sonnenstrahl scheint auf meiner Nase. Die Luft ist kalt, aber alle Menschen sind draußen und fotografieren. Es gibt auch einige wenige, die nur schauen. Ich gehöre nicht dazu, ich muss Fotos machen. Ich möchte den Moment aufbewahren, wie eine eingefrorene Seifenblase.
Es war eine außergewöhnliche Reise, voller Schönheit und Staunen. Die Wasserfälle der Westfjorde scheinen aus dem Himmel zu kommen. Die Landschaft ist tiefgrün, das Wasser blau und grau, der Nebel voller Zauber. Auch der Regen hat seinen Charme. Aber nichts ist mit dem Licht der Mitternachtssonne vergleichbar, auf einem Schiff im Nordpolarmeer, kurz bevor es den Polarkreis nach Süden überquert.