Auf der Wand neben der Wendeltreppe stand in großen leuchtenden Buchstaben geschrieben: „In jedem Schwarzgurt steckt ein Weißgurt, der niemals aufgegeben hat.“
Die Leiche lag am Fuße der Treppe. Wenn der starre Blick nicht um 180 Grad in die falsche Richtung gerichtet gewesen wäre, hätte man fast nicht bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Die Haare fielen der jungen Frau ins Gesicht und die wenigen Blutspuren auf der Stirn blieben fast unbemerkt unter den feuerroten Locken. Sonst war fast keine Spur von rot auf dem schneeweißen Dobok, bis auf dem leuchtenden roten Gurt um die Taille zu sehen. Daneben lag ein Schlüsselbund mit einem schwarzweißen YinYan Anhänger. Der Schulleiter, ein dünner junger Mann mit strähnigen braunen Haaren, den man seinen dritten Meistergrad in Taekwondo nicht ansah, kämpfte mit der Fassung. „Es ist nicht wahr, nein, es kann nur ein Alptraum sein!“, winselte er. „Dass in dieser Schule wieder jemand ums Leben kommt! Und gerade die Natalja! Sie war so stark, so schön, so gut!“, geriet er fast ins Schwärmen, für eine Sekunde vergessend, dass dies alles nun Vergangenheit war.
Der Polizeibeamte Ahrend machte sich nur wenige Notizen. Er war ein älterer Mann mit Glatze, und nur deswegen da, weil in der Polizeiinspektion Barsinghausen bei Hannover er als einziger noch nicht von der Grippe erwischt wurde. Aber seine Nase juckte bedenklich… „Sagen Sie mal, Herr Gabel, wer ist hier schon gestorben? Und gibt es jemand, der einen Grund gehabt hätte, Frau Kowalski zu ermorden?“
Der Schulleiter schwieg eine Weile, dann schnief er und fing an zu erzählen. Es stellte sich heraus, dass vor Jahren jemand in der Schule einen Herzanfall erlitten hatte und vor Ort verstorben war. Es war ein älterer Mann, Raucher und untrainiert, das harte Training von Null auf Hundert war definitiv zu viel für sein krankes Herz gewesen. Aber damals war der Schulleiter erst ein Kind, hatte gerade seinen Gelbgurt gemacht und dabei war er auch nicht gewesen. Ahrend nahm sich gleich vor, weniger zu rauchen und die nächste Vorsorgeuntersuchung bei seinem Hausarzt nicht mehr zu schwänzen. Und mal ein Probetraining zu besuchen, wenn er auch etwas langsamer anfangen wollte.
Zu möglichen Gründen für einen Mord fiel Peter Gabel auch etwas ein, wobei es schnell klar war, dass er sich um Kopf und Kragen redete. Die Verstorbene, eine hübsche junge Polin, hatte eine besondere Art, die sehr gut bei den Männern ankam. Sie konnte auf sich aufmerksam machen, lächeln, zuhören und bewundern, die Fantasie beflügeln und den einen oder anderen auch mal zappeln lassen. Sie hatte es aber faustdick hinter den Ohren und verheiratet war sie auch. Und (warum auch immer) hatte sie nicht allzu viele Sympathien bei den Frauen in Dojang gewonnen. „Also praktisch hätten Einige einen Grund gehabt?“, fragte Ahrend nochmal „Sie auch?“ Gabel stammelte etwas Unverständliches und wurde rot. „Also Sie, andere eifersüchtige Männer, vielleicht auch ihr Ehemann und einige neidische Frauen?“ zog Ahrend ein erstes Zwischenfazit. Es sah nach viel Arbeit aus.
Zwei Wochen später: alle in Dojang waren befragt worden. Ahrends Kollegin Layla, eine resolute junge Frau, hatte ganze Arbeit geleistet. Es hatte sich herausgestellt, dass alle, die ein Grund gehabt hätten, Natalja zu ermorden, zum Zeitpunkt des Todes (2 Uhr morgens) ein Alibi hatten. Sogar Peter Gabel hatte eins: er wurde um 1.39 Uhr morgens in der S-Bahn bei Hannover (30 km von Barsinghausen entfernt) kontrolliert und ohne Fahrkarte erwischt. Er hatte sich mit den Kontrolleuren angelegt und diese hatten dann die Polizei gerufen, sodass die Anwesenheit des Schulleiters für die fragliche Zeit gut protokolliert und dokumentiert war. Nachdem er seinen Schlüsselbund nicht gefunden hatte, musste er den Rest der Nacht auf der Couch bei seiner Mutter verbringen.
Ahrend hatte gerade seine Erkältung auskuriert und während der Krankheit viel Zeit gehabt, nachzudenken und die Ereignisse zu rekonstruieren. Nämlich so: nach dem Training waren vier Männer und zwei Frauen (eine davon Natalja Kowalski) zum Koreaner gegangen, essen und feiern. Natalja hatte Chili-Tofu gegessen (hier geht es zum Rezept). Nach dem fünften oder sechsten Soju (genauer wusste das niemand mehr), entschied die feuchtfröhliche Gesellschaft weiter zu ziehen. Außer Peter Gabel, der frustriert über Nataljas abweisende Art war und außerdem früh aufstehen musste. Sowie auch Natalja Kowalski, die mit den geklauten Schlüsseln von Gabel und unter Einfluss des Hochprozentigen vermutlich die Idee gehabt hatte, noch ein wenig für sich zu trainieren. Sie wollte wie immer die beste sein, ohne dass die anderen merkten, wie viel sie eigentlich trainierte. Die Wendeltreppe war schmal und steil, das Gleichgewichtsinn benebelt, ein falscher Schritt und …
Fall abgeschlossen, Chef zufrieden.
„Aber warum lag sie auf der linken Seite der Treppe?“, frage Layla und schob eine dunkle Locke unter dem Kopftuch. Gute Frage. „Wäre sie die ganze Treppe hinunter gefallen, hätte sie auf der rechten Seite, am Fuß der Treppe, liegen müssen.“ „Vielleicht hat sie noch versucht, sich fest zu halten und ist über das Geländer gekippt.“, sagte Ahrend unsicher. „Sonst…“ „Sonst?“, fragte Layla und ihre dunklen Augen glänzten. „Nichts, sagte er. „Es kann nur so gewesen sein“.
Layla schwieg. Ahrend schwieg auch und entschied so gleich, das mit dem Probetraining sein zu lassen. Vielleicht wäre er im Fitnessstudio 300 Meter weiter, Richtung S-Bahnhof, besser aufgehoben. Das mit „niemals aufgeben“ war sowieso nicht seine Sache.